19 Feb 2014 Apuliens Stolz und Zurückhaltung, Italiens tiefe Leidenschaften
Seit nunmehr über einem Jahrzehnt ist Apulien dasjenige italienische Urlaubsziel, dem größte Aufmerksamkeit gebührt.
Die Zeitungen und Zeitschriften der ganzen Welt nennen es „die neue Toskana„, aber solche Vergleiche hat es eigentlich gar nicht nötig. Die dortige Verbindung von alter Kulturlandschaft, warmherzigen und gastfreundlichen Einheimischen, tief verwurzelter Ess- und Weinkultur und atemberaubenden Stränden ist einzigartig auf dem italienischen Festland.
Außerdem wird ein Großteil der apulischen Küste von so sauberem und kristallklarem Wasser umspült, dass man darin schwimmen will. Das kann man von weiten Teilen des übrigen Italien nicht behaupten – zumindest nicht außerhalb der Inseln.
Doch obwohl es so angesagt ist, ist Apulien immer noch vergleichsweise unerforscht.
Die Gegend rund um die Stadt Alberobello erlangte frühe Aufmerksamkeit, weil sie ein traumhaftes Fotomotiv zu bieten hat: die Trulli, jene konischen, bienenstockartigen Häuser oder Hütten, die wie die Behausungen einer ausgestorbenen prähistorischen Rasse aussehen.
Näher zur Küste hin hat der Aufstieg der Flughäfen Bari und Brindisi zu Billigflugzielen zur Ausbreitung ländlicher Hotels geführt, von denen viele in umgebauten Masserias, traditionellen befestigten Bauernhäusern, untergebracht sind.
Trotzdem ist es ganz leicht, auch in der Hochsaison den Touristenmassen in diesem faszinierenden Teil Italiens zu entgehen.
Eine meiner Lieblingsgegenden in dieser Region ist Salento, der Absatz des italienischen Stiefels, den ich als Engländer immer mit Cornwall vergleiche: Er bietet das gleiche Gefühl von Finis Terrae, die gleichen Überbleibsel vorchristlicher Kultur (die Tarantella oder Pizzicata in Apulien, das Hobby Horse in Cornwall), die gleiche Heimatverbundenheit und Zurückhaltung. Natürlich gibt es auch wesentliche Unterschiede – nicht zuletzt das Wetter.
Die Zurückhaltung, die ich hier erwähne, fällt Außenstehenden meist nicht auf, die – fälschlicherweise – davon ausgehen, dass Italiener umso überschwänglicher und theatralischer werden, je weiter man nach Süden reist. Was aber für Neapel gilt, gilt nicht für Sizilien oder Apulien – vor allem nicht für dessen südliche Landzunge.
Die Mentalität der Salentiner zeichnet sich durch eine Mischung von Stolz und Zurückhaltung aus, gepaart mit einer recht förmlichen Höflichkeit, die ich ungeheuer genieße. Und unter der Oberfläche brodeln tiefe Leidenschaften, die sich manchmal in Fehden und Streitereien äußern, häufiger aber in dem schnellen, hypnotischen, tranceartigen Takt und Rhythmus der Pizzicata oder Tarantella.
Ich liebe das meerumschlungene Gallipoli mit seinem Labyrinth von aneinandergeschmiegten Häusern im Centro Storico, das so tut, als habe es mit dem Meer jenseits der Stadtmauern nichts zu tun (Cesare Brandi erfasste es genau, als er Gallipoli „eine Binnenstadt am Meer“ nannte).
Ich liebe auch Otranto, das seine ganz eigenen Wege geht, sich als Schickimicki-Sommerfrische für hippe Romani und Milanesi gibt, sich aber tatsächlich als eine Stadt entpuppt, die im Tiefsten unverdorben und von großem Ernst geprägt und mit einer der herrlichsten kleinen Kathedralen Italiens gesegnet ist (Wo sonst auf der Welt sind Jesus, Mohammed und König Arthur gemeinsam auf demselben christlichen Kunstwerk abgebildet?).
Am tiefsten aber berührt mich das Innere von Salento. Orte wie das wundervoll benannte Depressa, ein Ortsteil von Tricase, wo ich einmal mit dem Barone Riccardo Winspeare (dem Vater des späteren Regisseurs Edoardo) in dessen stilvoll verfallenem Palazzo am Marktplatz Tee trank.
In perfektem Englisch, das er anscheinend von einem Kindermädchen gelernt hatte, erzählte er mir, wie einmal Prinzessin Margaret, die Schwester von Königin Elisabeth, zu Besuch gewesen war. „Sie war sehr, sehr verrückt“, versicherte er mir gelassen.
Oder Orte wie Galatina mit seiner wundervollen Kirche Santa Maria d’Alessandria, die im fünfzehnten Jahrhundert von Wandermalern aus der Toskana, den Marken und der Emilia ganz und gar mit Fresken ausgemalt worden war.
Als ich einmal darin saß und in meinem Reiseführer las, kam eine junge Frau herein, die gekleidet war, als würde sie gleich in einen Nachtclub gehen. Sie beachtete mich gar nicht, schritt den Kirchengang hinunter und zur Orgel hinauf, nahm Platz und spielte die erlesensten Fugen von Bach.
Nach dem hausgemachten Zitronensorbet in der Bar gegenüber an der Piazza dachte ich, es könne nicht mehr besser werden. Wurde es aber.