29 Apr 2014 Die kulinarische Leidenschaft von Giacomo Leopardi: wenn Essen Poesie ist
In Italien kann man sogar in den Gassen der Innenstadt von Neapel Poesie atmen: nicht nur die Poesie des Straßenlebens, seine Düfte, seine Speisen und seine Menschen (was allein schon eine ganze Menge wäre), sondern auch die Poesie, die diesen Orten durch Giacomo Leopardi aufgeprägt wurde, und die von ihnen bewahrt wird. Leopardi war der berühmteste italienische Dichter (und Philosoph) des neunzehnten Jahrhunderts, ganz zu schweigen davon, dass er eine der wichtigsten Persönlichkeiten der Weltliteratur ist.
In der Vico della Quercia Nummer 9 findet man ein kleines Ladenrestaurant, „Timpani e Tempura“, ein „kleiner Tempel“ der neapolitanischen Straßenküche in der Innenstadt. Der Koch und Inhaber Antonio Tubelli ist zugleich Autor des Buches „Leopardi a tavola“ („Leopardi bei Tisch“), das er zusammen mit Domenico Pasquariello geschrieben hat. Es basiert auf einer sorgfältigen Studie der privaten Papiere des „Zibaldone“ (des persönlichen Tagebuchs, das viele der Gedanken des Dichters enthält).
Zweifellos empfand Giacomo Leopardi große Leidenschaft für die italienische Küche. Vielleicht sollten wir lieber sagen: 49 Leidenschaften, denn dies ist die Anzahl der Gerichte, die er mit großer Sorgfalt auflistete (wie er auch dazu neigte, dies mit philosophischen Gedanken zu tun). Und viele dieser Gerichte kann man auch heute noch genießen, und zwar in eben diesem „Timpani e Tempura“.
Antonio Tubelli hebt die phantastische Völlerei des Dichters hervor, seine Neugier im Hinblick auf Essen und Leben, die ihn auf seine Reisen auf den Spuren der kulturellen Erschütterungen seiner Zeit führte: aus dem heimatlichen Recanati, der kleinen Stadt in den Marken auf der östlichen Seite Mittelitaliens, nach Mailand, Bologna, Florenz, Pisa und schließlich nach Neapel, dem idealen Ort, wie Tubelli sagt, für seine Gaumenfreuden.
Leopardi kam nach Neapel, weil er einem Freund folgte, dem er in Florenz begegnet war: Antonio Ranieri. Diesen hatte es dorthin ins Exil verschlagen, zusammen mit dem Koch Pasquale Ignarra, der Leopardis Privatkoch in der Villa Le Ginestre in Torre del Greco werden sollte, „einem Heim in der wundervollen Landschaft am Fuße des Vesuv, das heute zu den ‚Ville del Miglio d’oro‘ gehört – jener Straße, die von Neapel nach Reggia di Portici führt und von aristokratischen Häusern gesäumt ist“.
Hier entsteht aus Tubellis Worten eine Figur, die entschieden dynamischer ist als der Dichter, der für seinen kosmischen Pessimismus, seine Zerbrechlichkeit und sein Leiden berühmt war und ist (wie es auch in einem neuen Film, „Il Giovane favoloso“, geschieht, dessen Aufführung wir bald bei einem internationalen Filmfestival erwarten).
„In Briefen an seine Schwester sprach Leopardi über das Wohlgefühl, das er in gutem Essen fand, und wie dies damit zusammenhing, wo er lebte. Tatsächlich war Torre del Greco berühmt für seine gute Luft und wurde vor allem Menschen mit Atembeschwerden empfohlen“, erklärt Tubelli.
Oft aber verließ Leopardi bereitwillig die Villa Le Ginestre, um sich in die Gassen der Innenstadt von Neapel zu begeben: „Er definiert Neapolitaner als ‚mangiamaccheroni‘ (‚Maccheroni-Esser‘); damit hebt er die örtlichen Gebräuche hervor und beweist damit, dass er die Straßen-Essensstände zu besuchen pflegte, wo auch die Unterschichten Maccheroni essen konnten – ein Genuss, der damals dem Adel vorbehalten war.
Und dann gab es noch seine bemerkenswerte Lust auf Sorbets, die er in einer Bar an der Piazza Carità genoss (ganz in der Nähe von dort, wo Sie in unseren Tagen die historische Eisdiele ‚La Scimmia‘ finden): Er pflegte dort mehr als eines auf einmal zu bestellen und konnte sie dadurch alle zusammen kosten. Er war auch verrückt nach Confetti Cannellini di Sulmona – mit Zucker und Zimt gesüßte Mandeln, die wegen der Zimtsplitter im Inneren so heißen und aus einer reizenden Stadt im Zentrum von Süditalien stammen.“
Die von Leopardi erwähnten Gerichte stammen nicht alle aus Neapel: „Seine Liste ist ein kurzer Überblick über die italienische Gastronomie“, fährt Tubelli fort, „es gibt Tortellini, Ravioli, Timpani di Magro (ein fettarmes Pastagericht) …“ Das Buch enthält auch einige der Rezepte für „leopardische Gerichte“, die Tubelli aus der vom Dichter zusammengestellten Liste „abgeleitet“ hat und nur in seinem Restaurant anbietet.
Die Timpani zum Beispiel – „ein süditalienischer Ausdruck, der auf das Timballo (eine Spezialität mit ofengebackenem Teigboden) hinweist, ist ein typisches Straßengericht, weil man es in Scheiben geschnitten mit der Hand essen kann“. Und in seinem Geschäft lädt Tubelli die Gäste immer dazu ein, ihre Gabeln beiseitezulegen, „damit etwas von der fundamentalen fleischlichen Urbeziehung spürbar wird, die Sie zum Essen haben sollten, und das ist eine Beziehung, die Ihnen direkt von der Mutterbrust an bewusst sein sollte.“
Der Ausdruck „Tempure“ scheint uns nach Japan zu führen, aber Tubelli überrascht uns mit der Erklärung, dass er ursprünglich aus dem Lateinischen stammt und von „Tempora“ abgeleitet ist; womit die Fastenperioden des Kirschenjahrs gemeint waren: „Es ist ein Gericht mönchischen Ursprungs. Während der Fastenzeiten erfanden die Mönche wahrscheinlich diese Art von fritierten Speisen, um in dieser Zeit nicht jeden Tag gekochtes Gemüse essen zu müssen.
Die portugiesischen Jesuiten exportierten es nach Osten. Und das ist der Grund, warum ich diesen zweiten Namen ausgesucht habe, der uns daran erinnert, dass Neapel die große Hauptstadt des Südens ist, wo sich seit undenklicher Zeit die verschiedensten kulturellen und kulinarischen Traditionen vereinigen.“