Mein Sizilien

Mein Sizilien ist eine Metapher… genauso wie der Titel  meines Interviewbuches, welches ich 1979 mit dem Autor Leonard Sciascia für Stock Publications geschrieben habe und welches von Mondadori in italienisch übersetzt worden ist.

Ich entdeckte Sizilien im Jahr 1975. Ich hatte eine Verabredung mit Sciascia, der gerade die Zustimmung gegeben hatte, ein “unabhängiger Kandidat” der kommunistischen Liste für die Komunalwahlen in Palermo zu werden. Diese Neuigkeiten haben für große Aufregung in den Schreibbüros des Nouvel Observateur gesorgt: wie konnte ein kritischer, skeptischer Journalist in die Politik einsteigen? Und dann auch noch auf Sizilien?Leonardo Sciascia

Ich buchte meine Zugreise, überquerte die Meerenge von Messina bei Nacht und am Morgen erblickte ich aus meinem Schlafwagen die kleinen Häuser mit Dachpfannen arabischen Stils, Palmen und kontrastreiche Landschaften. Ich spürte ein vages Gefühl von Gewalt in der Luft. Aber es war wohl nur der Effekt des sehr hellen Lichts und der üppigen Vegetation, und wie ich später feststellte, der Effekt, äußerst ungewöhnliche Menschen kennenzulernen. Jeder Sizilianer ist wie eine Figur in einem Roman. Menschen, die keinem trauen, die einem aber bei der ersten Gelegenheit alles über ihr Privatleben erzählen. In irgendeinem Moment in ihrem Leben sieht sich  jeder Sizilianer in einer Zwickmühle: entweder man ist ein Feigling oder ein Held. Ja, aufgrund der ständigen Gegenwart der Mafia, nicht immer aufregend aber definitiv konstant, selbst in den kleinsten Kleinigkeitengriechischer Tempel auf Sizilien des täglichen Lebens werden sie gezwungen so zu tun, als ob sie nichts sehen würden (das wäre der feige Weg) oder sie wehren sich und werden somit zum Held. Das ist das komische aber faszinierende Schicksal  dieser Menschen, die von Gott mit großen Reichtümern, wie z.B. Landschaften, die Küche, aber ebenso mit der wundervollen archäologischen Vergangenheit versehen wurden, auch wenn sie sich schon häufig mit griechischen Tragödien konfrontiert gesehen haben. Und tatsachlich, Griechenland ist auf dieser Insel sehr präsent, und eine Reise durch Sizilien  wird zu einer Reise in das Herzstück der westlichen Zivilisation. Man kann die Atmosphäre dieser Zivilisation in den Städten und Dörfern genauso einatmen wie auf dem offenen Land, inmitten der großen Flächen der ehemaligen “latifondi”, diese Atmosphäre liegt überall in der Luft.

Aber kommen wir zurück zu Sciascia. Ich fuhr mit meinem Auto nach Racalmuto, einer kleinen Stadt, wo er immer den Sommer verbrachte, begleitet von einem Literaturprofessor der Universität von Palermo. Wir erreichten die Bergseite von La Noce, umgeben von Weinbergen: ein wundervolles Mittagessen erwartete uns (Pasta mit Oliven) und Sciascia begann über Paul Louis Courier, über Paris und dem Hotel du Pont Royal, in dem er während seiner Reise in die französische Hauptstadt übernachtet hatte, zu erzählen. Ich fühlte mich sofort wie unter Freunden, wohl auch, weil Frankreich ein wichtiger Orientierungspunkt für die sizilianischen Illuministen darstellte. Er erzählte uns von seinem politischen Engagement: er war der Meinung, es wäre besser, für eine Partei zu arbeiten, welche versuchte Veränderungen herbeizuführen, als gegen die inländische, ewig anhaltende Unbeweglichkeit anzukämpfen. Er wiederholte einen Satz aus dem “Gattopardo”, er wolle “alles ändern, so das letztendlich alles unverändert bleibt.” Es war jener Tag, an dem ich mich dazu entschlossen habe, mit Sciascia ein Buch zu schreiben, ein Buch über sein Sizilien, sein intellektuelles Engagement und über seine Meinung über die Welt.

Selbstverständlich bin ich viele Male auf die Insel zurückgekehrt, aber das zweite wichtige Treffen hatte ich im Herbst 1984.Giovanni Falcone 1939 - 1993 Die Zeitungen waren voll von Geständnissen des Mafiazeugen Tommaso Bruschetta, der vom Staatsanwalt Giovanni Falcone verhört worden war…Ich habe versucht, ein Zusammentreffen mit dem Staatsanwalt auf einem Nachmittag im Spätherbst im Gericht von Palermo zu arrangieren. Als wir uns trafen, teilte Falcone mir mit Bedauern mit, das es für ihn nicht möglich war, dieses Treffen wahrzunehmen, da er sich auf dem Weg zum Gefängnis nach Ucciardone befand. Als ich vorschlug, uns zum Abendessen zu treffen, antwortete er mir: “Es ist nicht sehr sauber.”

So schlug ich vor, am nächsten Morgen um sieben Uhr zusammen nach Rom zu fliegen, und so hätten wir uns während des Fluges ein wenig unterhalten können. Und wie der Zufall es so wollte, saßen wir am nächsten Morgen neben Marco Pannella, der Vorsitzende der radikalen Partei, der sich zu jener Zeit mit dem Papst der Cosa Nostra , Michele Greco, sehr gut verstand. Falcone schlug mir vor, nach Hause zu gehen und versprach, mich später am Morgen anzurufen. Ich war sehr enttäuscht. Gegen 12.30 Uhr am Mittag kam jemand von der Guardia di Finanza bei mir vorbei, bat mich in sein Auto zu steigen, und nach einem sehr großen Umweg brachte er mich zu den Gebäuden der Guardia di Finanza. Wir gingen einige Stufen hinunter, das Untergeschoß war durch eine Feuerstelle sehr nett erleuchtet, und dann sah ich Falcone an einem Tisch sitzend, gewillt, mich zu begrüßen. Ich traute meinen Augen nicht. Eine Freundschaft wurde geboren, was mich später dazu veranlasste, das Buch „Cose di Cosa Nostra“  im Jahr 1991 zu schreiben, genau sechs Monaten vor dem Tod des Staatsanwaltes. Ich habe diese Episoden erzählt, um den Menschen zu verstehen zu geben, das meine Begegnungen mit Sizilien zu allererst Begegnungen mit Sizilianern waren und das diese Begegnungen immer extrem romantisch, fantastisch, voller Überraschungen und äußerst faszinierend waren. Sizilianer scheinen wie in einem Roman zu leben. Sie sind unvergessliche Menschen. Es ist wohl kein Zufall, dass die größten italienischen Romanautoren von dieser Insel stammen.Isola Bella - Taormina

Aus diesem Grund bezieht sich meine Annäherung an Sizilien mit seinen wunderschönen Landschaften, Produkten und Monumenten hauptsächlich auf die Menschen, die in diesem extremen Punkt der westlichen Zivilisation, in engem Kontakt mit der arabischen Welt leben, wo der Dialog zwischen Rationalität und Irrationalität jeden Tag auf dramatische Art und Weise präsent ist. Mein Sizilien ist eine Metapher für die Vernunft.